Die Welt: Gastkommentar – Bitte keinen EU-Superstaat
Es ist eine Art Selbstfindungsprozess. Fünf Integrationsmodelle stellt die EU-Kommission den Mitgliedstaaten zur Diskussion. Das Europaparlament versuchte es mit nur einer Version zur „Future of Europe“. Im Februar geriet die Abstimmung zur Zukunft Europas allerdings völlig aus dem Ruder. Der Bericht eines Europäers mit Alleinvertretungsanspruch erhielt nur 280 Stimmen und trotzdem eine Mehrheit. Vorsichtshalber stimmten viele der 750 Europaabgeordneten gar nicht erst mit, viele enthielten sich beim Bericht des extremen Supereuropäers Guy Verhofstadt.
Irritiert blickten viele verdiente Europäer nach der Abstimmung um sich. Warum nur folgt die Mehrheit im Parlament den vermeintlich proeuropäischen Ideen nicht mehr? Die Analyse dazu war recht einfach. Die Mehrheit der Abgeordneten wollte eben keine Verantwortung für einen europäischen Finanzminister tragen, der Schulden aufnehmen darf. Die Mehrheit wollte nicht, dass die Nationalstaaten zu Bundesländern abgewertet werden. Und vielen Abgeordneten aus Skandinavien, den baltischen Staaten, Deutschland oder den Niederlanden ging es offensichtlich dann doch zu weit, die bislang zwischenstaatlich organisierte Rettungspolitik für angeschlagene Euro-Länder jetzt auf eine gesamteuropäische Ebene zu übertragen, auf der zunehmend die Augen zugedrückt werden.
Verhofstadt machte den Fehler, den viele Berufseuropäer heute machen. Sie leiten die nach dem Brexit und nach der Wahl Trumps an sich bestehende proeuropäische Stimmung in die falschen Themen. Sie nehmen die Vergemeinschaftung von europäischen Schulden und Sozialsystemen in Geiselhaft für Politikbereiche, die stattdessen der Erwartungshaltung der übergroßen Zahl der Europäer entsprechen. Solche Bereiche sind aber eben nicht die Einlagen kleiner Sparer, die für große Krisenbanken haften sollen. Das ist auch nicht die von den Sozialdemokraten geforderte europäische Arbeitslosenversicherung. Nein, die Europäer zu Hause wollen eine starke europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Sie wollen ein wehrhaftes Europa, das auch in globalen Handelsfragen mithält.
Die Krisenarchitektur rund um den Euro ist zwischenstaatlich gefestigt – die Reformen wirken. Wenn wir uns an vereinbarte Regeln halten, brauchen wir auch nicht auf Teufel komm raus jetzt die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion zulasten weniger Nettozahler. Stattdessen braucht die Europäische Union mehr Europa bei ganz anderen, viel weniger Themen. Neben der Verteidigungsgemeinschaft gehören sichere Außengrenzen und endlich europäische Lösungen in der Flüchtlingskrise dazu.
Wir Berufseuropäer müssen uns stärker die Frage stellen: Gestalten wir Politik für uns und für die Macht europäischer Institutionen? Oder gestehen wir uns gerade in Deutschland ein, dass unsere Vision einer immer enger vernetzten und regulierten Gemeinschaft von der großen Mehrheit der Europäer gerade nicht geteilt wird? Wenn wir das selbstkritisch akzeptieren und Ziele korrigieren, können wir auch die Europaskeptiker in die Schranken weisen und sagen: Den EU-Superstaat, den die Populisten anklagen, gibt es so nicht.
Die Juncker-Kommission hat im Kleinen aufgeräumt, um sich großen Fragen stellen zu können. Diese großen Fragen müssen jetzt aber mehr den Erwartungen der Menschen entsprechen. Und nicht den Erwartungen derjenigen, die es tatsächlich auf den föderalen Superstaat mit Finanzausgleich und vergemeinschafteten Sozialsystemen abgesehen haben. Diese Vereinigten Staaten von Europa sind mehr Horror als Vision. Eine Politik aber für das Diesseits, die den europäischen Mehrwert und erfolgreichen Pragmatismus in der Vordergrund stellt, würde auch Mehrheiten im Europäischen Parlament bei Verhofstadt-Berichten ermöglichen. Und bei Europawahlen. Auf geht’s.