Handelsblatt: Freispruch für Brüssel
Gastkommentar von Markus Pieper im Handelsblatt
Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert, wenn es dann kein großes Geschrei gibt (…), dann machen wir weiter, Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Der Mann, der dieses 1999 ironisch über europäische Gesetzgebung sagte, ist heute Präsident der EU-Kommission. Die scheint jetzt Ernst zu machen in Sachen bessere Rechtssetzung und Image.
Jean-Claude Juncker und sein Vizepräsident Frans Timmermanns sind es leid, dass die Verantwortung für Bürokratielasten immer denen zugeschoben wird, die fern im gläsernen Berlaymont-Gebäude sitzen. Das Europaparlament macht das, obwohl die Abgeordneten regelmäßig Kommissionsvorschläge verschlimmbessern. So beim Eingriff in den EU-Emissionshandel, der laut Kommissionsvorschlag mit Folgenabschätzung für die Industrie 2021 erfolgen sollte. Das Parlament setzte das Startdatum 2019 durch – ohne Folgenabschätzung.
Auch die EU-Staaten kritisieren die Kommission, allen voran Großbritannien und Ungarn. Aber auch in Deutschland gibt es Kritik an Tachografenpflicht und EU-Mutterschutzregeln. Dabei hat sich der Bundestag in den letzten Jahren nur mit sieben Prozent der europäischen Gesetzesvorlagen intensiver beschäftigt. Und das Instrument der Subsidiaritätsrüge haben die EU-Staaten seit 2009 nur zwei Mal erfolgreich angewandt. Da werden Möglichkeiten, selbst in Folgenabschätzung und Subsidiaritätsverletzungen einzugreifen, nicht genutzt.
Die Kommission scheint es leid zu sein, den Schwarzen Peter auf Dauer gepachtet zu haben. Beim Mutterschutz setzt sie dem Rat eine sechsmonatige Frist, dann wird der Vorschlag zurückgezogen. Thema in ein paar Tagen erledigt. Bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln sollen die EU-Staaten selbst entscheiden können, was für sie gut ist und was nicht. Thema nicht erledigt, aber zumindest außerhalb der Negativaura der Kommission.
Mit dem jetzt vorgelegten Vorschlag zur „besseren Rechtssetzung“ gehen Juncker und Co. noch einen Schritt weiter. Sie wollen den Rat und das Parlament institutionenübergreifend gesetzlich in die Pflicht nehmen, an der Abschätzung der Kosten- und Bürokratielast verantwortlich mitzuwirken. Der Vorschlag macht Sinn, sind es doch oft die verhandelten Kompromisse — und nicht die ursprünglichen Kommissionsvorschläge —, die für bürokratische Auswüchse in der Umsetzung von EU-Verordnungen oder Richtlinien sorgen.
Der Kommissionsvorschlag einer gemeinsamen Folgenabschätzung der EU-Institutionen geht absolut in die richtige Richtung, wird er doch den wahren Verantwortlichkeiten für europäische Gesetzgebung gerecht. Das unabhängige Panel (für Streitfragen) und der „Regulatory Scrutiny Board“ (für unabhängige Folgenabschätzung) sind mit zwölf Mitgliedern jedoch nur sehr dürftig ausgestattet. Wenn es der Kommission mit unabhängiger Folgen- abschätzung ernst ist, muss sie sich dem Modell der Normenkontrollräte in Großbritannien oder Deutschland stärker annähern. Hier werden die Folgen anstehender nationaler Gesetze wirklich auf Herz und Nieren geprüft und oft erfolgreich korrigiert. Mit einem europäischen Normenkontrollrat würde das Juncker-Zitat von 1999 endgültig der Vergangenheit angehören. Den wichtigsten Schritt dazu hat die EU-Kommission gerade gemacht.