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Die Glocke: EU vom Kopf auf die Füße stellen

Enttäuschung über Brexit-Entscheidung

Kreis Gütersloh/Kreis Warendorf (osi) – Die Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der EU haben Politik und Wirtschaft in der Region am Freitag mit Enttäuschung und Bedauern zur Kenntnis genommen. Politiker riefen dazu auf, das europäische Projekt nicht aufzugeben, sondern neu zu beleben.

Sie haben gewonnen: Unterstützer der Leave.eu Kampage stimmten sich bereits am Donnerstag in London mit einer Wahlparty auf ihren möglichen Erfolg ein.

Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, sprach von einem „Warnschuss” für die 27 anderen EU-Mitgliedsländer. „Wir müssen endlich ein Europa bauen, das liefert, was die Bürger von Europa erwarten“, sagte der Bielefelder. „Das muss ein Warnschuss sein an die nationalen Regierungen.“

Brok sprach sich für ein hartes Vorgehen bei den wahrscheinlich bevorstehenden Trennungsgesprächen mit Großbritannien aus. „Draußen ist draußen“, sagte der CDU-Politiker. Jetzt müssten „Nachahmer-Effekte“ verhindert werden. „Das war eine Fehlentscheidung, für die bitter bezahlt werden muss.“

Zugleich machte er den britischen Premierminister David Cameron für die mutmaßliche Niederlage der EU-Befürworter persönlich verantwortlich. „Man muss sich auch nicht wundern, wenn David Cameron zehn Jahre lang erklärt, wie schlecht Europa ist.“

EU vom Kopf auf die Füße stellen

Das Ergebnis des Referendums habe ihn „negativ überrascht“, sagte der münsterländische CDU-Europaabgeordnete Markus Pieper. Das Beispiel der Briten dürfe keinesfalls Schule machen. „Die EU muss jetzt vom Kopf auf die Füße gestellt werden“, forderte der 53-Jährige. Mehr Bürgernähe der EU, weniger Bevormundung und ein konsequenter Schuldenabbau seien das Gebot der Stunde. „Anstatt einer immer engeren Union muss es nun ein besseres Europa geben.“ Nur so ließe sich neues Vertrauen aufbauen.

In wirtschaftlicher Hinsicht befürchtet Pieper nicht nur für Großbritannien, sondern auch für Deutschland negative Konsequenzen. Die Insel sei der drittwichtigste Handelspartner der Deutschen. „Wenn es zu neuen Zöllen und Handelsbeschränkungen kommt, werden wir das spüren“, betonte der Münsterländer.

Rechtspopulisten sind keine Alternative

Von einem „schlechten Tag für Europa“ sprach Bernhard Daldrup, SPD-Bundestagsabgeordneter für den Kreis Warendorf. „Die Aufgabe lautet nun, sich für ein starkes und soziales Europa zu engagieren“, sagte der Sendenhorster. Rechtspopulistische Strömungen böten keine Alternative zu einem solidarischen und vereinten Europa.

Daldrup räumte ein, dass er sich nicht habe träumen lassen, dass „wir in Europa in so eine kritische Phase kommen“. Die Briten würden aufgrund der Entscheidung ökonomisch noch arge Probleme bekommen. Das zeige sich bereits an der Reaktion der Börsen und am tiefsten Stand des britischen Pfunds seit 1985.

Zudem sei damit zu rechnen, dass die EU-freundlichen Schotten nun erneut ein Referendum vorbereiteten, um eine Ablösung von Großbritannien und einen Verbleib in der Europäischen Union zu erreichen.

„Unvernünftig und unverantwortlich“

Das schätzt CDU-Politiker Reinhold Sendker ganz ähnlich ein. Das Votum beschere der britischen Regierung weitere Austrittsdiskussionen mit den Schotten und den Nordiren, sagte der Bundestagsabgeordnete für den Kreis Warendorf. Die Entscheidung bezeichnete der Westkirchener deshalb als „unvernünftig und unverantwortlich“. Irrationale Emotionen hätten über den Verstand gesiegt.

Sendker wies dem britischen Premier David Cameron eine Hauptverantwortung für das Votum der Briten zu, weil dieser selbst jahrelang eine Anti-Europastimmung propagiert habe. „Wer das Feuer schürt, muss sich nicht wundern wenn es lichterloh brennt“, betonte der Christdemokrat.

Großbritannien sei allerdings ein Kernland Europas und Vorreiter in Sachen Menschen- und Freiheitsrechte. Insofern wertete Sendker den Austritt auch als schwere Niederlage für die Europäische Union. Er appellierte an die Brüsseler Entscheidungsträger, dieses Votum als Weckruf zu verstehen. Die EU müsse sich reformieren und „die Bürgerinnen und Bürger wieder stärker mitnehmen“.

Wirtschaftlich werden die Briten nach Überzeugung des Bundestagsabgeordneten deutlich mehr unter einem Brexit leiden als der Rest Europas. Bei den nun anstehenden Austrittsverhandlungen ginge es darum, weitere negative Auswirkungen in der wirtschaftlichen Verflechtung zu vermeiden und vor allem möglichen Arbeitsplatzverlusten entgegenzutreten.

Sendker stellte aber auch klar: „Draußen heißt draußen“. Wer geht, der gehe mit allen Konsequenzen. Die Zeit des Briten-Rabatts sei nun endgültig vorbei.

Brinkhaus: Beziehungen auf neue, stabile Basis stellen

„Bedauerlich, aber keine Katastrophe“: So bewertete der Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Ralph Brinkhaus, das Ergebnis des Referendums. Es bedeute weder das Ende der EU noch der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Vereinigten Königreich. „Wir müssen unsere Beziehungen nun besonnen auf eine neue, stabile Basis stellen“, sagte der Bundestagsabgeordnete für den Kreis Gütersloh. „Sorge bereitet mir allerdings, wie es mit dem Vereinigten Königreich weitergeht.“

Strothmann sieht „irrationale, emotionale“ Panikmache

Als „schwarzen Tag für Europa und Deutschland“ bezeichnete die Bielefelder CDU-Bundestagsabgeordnete Lena Strothmann die Brexit-Entscheidung. In den vergangenen 70 Jahren sei die EU ein Garant für Freiheit, Frieden und Wohlstand gewesen. „Daher bedauere ich die Entscheidung der britischen Wähler, die sich für den Austritt aus der EU ausgesprochen haben, sehr“, sagte Strothmann, die zugleich Präsidentin der Handwerkskammer Ostwestfalen-Lippe ist.

Das Ergebnis stürze die EU in Zeiten großer globaler Herausforderungen in eine tiefe Krise. Wie bei anderen Referenden, die in den vergangenen Jahren in verschiedenen europäischen Ländern über die EU abgehalten worden sind, siegten auch diesmal die Populisten. Laut Strothmann zeigt das Ergebnis einmal mehr, wie schwierig es sei, „mit rationalen Argumenten gegen irrationale, emotionale Panikmache vorzugehen“. Umso mehr müsse die Entscheidung Ansporn sein, die EU zu stärken.

Die Bundestagsabgeordnete forderte eine ernsthaft geführte Grundsatzdebatte über die Zukunft der EU. „Wir müssen die Begeisterung der Menschen für das europäische Projekt wieder entfachen“, verlangte die Isselhorsterin. „Europa muss lernen sich künftig um die wirklich wichtigen Herausforderungen zu kümmern.“

Einbußen beim Auslandsgeschäft befürchtet

Mit Besorgnis reagierte auch die heimische Wirtschaft auf den Ausgang des Referendums. „Das ist kein gutes Zeichen für ein gemeinsames Europa und ein schlechtes Ergebnis für die nord-westfälische Wirtschaft“, sagte Dr. Benedikt Hüffer, Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Nord Westfalen in Münster. Großbritannien sei ein wichtiger Absatzmarkt für die Unternehmen im Münsterland und in der Emscher-Lippe-Region. 500 Unternehmen aus Nord-Westfalen, die Außenhandelsbeziehungen mit Großbritannien haben, sind nach Angaben der IHK direkt betroffen. Sie exportierten bislang pro Jahr Waren im Wert von geschätzt 1,6 Milliarden Euro dorthin.

Nach dem Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der EU rechnet Hüffer mit Einbußen beim Auslandsgeschäft für die nord-westfälische Wirtschaft: „Die starke Abwertung des britischen Pfunds verteuert Exporte aus unserem IHK-Bezirk auf die britische Insel erheblich. Zudem werden Geschäfte mit Großbritannien komplizierter, die damit verbundene Export-Bürokratie für die Unternehmen aufwändiger.“

OWL-Ausfuhren im Wert von 1,5 Milliarden Euro

Auch die IHK Ostwestfalen zu Bielefeld bedauerte den Austritt Großbritanniens aus der EU. Die Auswirkungen des Brexit würden auch in der Wirtschaft in Ostwestfalen in Zukunft deutlich spürbar sein, betonte IHK-Präsident Wolf D. Meier-Scheuven. Bei einem ihrer wichtigsten Handelspartner müssten sich die hiesigen Unternehmen auf erhebliche Veränderungen einstellen. Das gelte insbesondere auch für die zahlreichen deutschen Firmen, die in Großbritannien für Europa und die Weltmärkte produzierten.

Die Ausfuhren Deutschlands ins Vereinigte Königreich haben einen Wert von 90 Milliarden Euro, allein 1,5 Milliarden Euro stammen aus Ostwestfalen. Rund 400 ostwestfälische Unternehmen exportieren auf die Insel; 60 Betriebe sind mit einer Niederlassung oder Produktionsstätte vor Ort vertreten. Meier-Scheuven: „Kurzfristig ist zu befürchten, dass der Absatz unserer Produkte in Großbritannien schwächer wird. Sicherlich werden wir in den nächsten Wochen mit einer weiteren Abwertung des Pfunds zu rechnen haben. Aber auch strukturell wird der deutsch-britische Handel schwieriger. Großbritannien muss Handelsverträge weltweit, aber auch mit der EU komplett neu aufsetzen.“

„Trauriges Signal“

Ähnlich skeptisch äußerte sich Thomas Sterthoff, Vorstandsvorsitzender der Volksbank Bielefeld-Gütersloh. Der Banker befürchtet nach der Brexit-Entscheidung „ungewisse Folgen für den heimischen Export“. Das Votum sei ein trauriges Signal, sagte er. „Angesichts der aktuell angespannten wirtschaftlichen Lage, also in Zeiten von Niedrigzins und nervösen Finanzmärkten, hätten wir uns ein anderes Ergebnis vor allem für unsere mittelständischen Firmenkunden gewünscht, für die Großbritannien ein wichtiger Absatzmarkt ist.“

Die nächsten Monate würden zeigen, welchen Weg die Briten – und vor allem auch Brüssel – einschlagen werden. Laut Sterthoff befürchtet ein großer Teil der mittelständischen Volksbank-Kunden, dass bürokratische Handelshemmnisse oder sogar die Wiedereinführung von Zöllen und anderen Einfuhrbeschränkungen folgen könnten. Der BVR-Mittelstandsbericht habe dazu deutliche Zahlen ermittelt: Für mehr als ein Fünftel der mittleren Betriebe würde Großbritannien durch mögliche Zölle als Absatzmarkt uninteressant, und mehr als 15 Prozent befürchten, dass die britische Nachfrage nach deutschen Produkten sinkt.

Nach Sterthoffs Überzeugung werden sich die Finanzmärkte nun auf eine längere Periode der Unsicherheit einstellen müssen. Immerhin zeige das knappe Abstimmungsergebnis, dass viele Briten trotz allem um die Vorteile der EU wüssten. Es bleibe deshalb zu hoffen, „dass das Vereinte Königreich den Firmen aus Ostwestfalen-Lippe auch zukünftig als wichtiger Exportmarkt erhalten bleibt“.

Briten spielen jetzt in zweiter Liga

Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, sieht in der Brexit-Entscheidung einen „Verlust für alle Europäer“. Dennoch gehe das Projekt Europa weiter, „denn es ist ein wichtiges, ein historisches Projekt, das uns Frieden, Wachstum und Wohlstand gebracht hat“, sagte er. Auf diesem Weg müsse man fortfahren, betonte der Niederländer. „Leider aber ohne die Briten, die jetzt in der zweiten Liga spielen.“

Veröffentlicht am 25. Juni 2016 in
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