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NOZ / Westf. Tagespost: „Europa ist mehr als eine Schönwetterunion“

Interview mit dem Halener Europaabgeordneten Markus Pieper (CDU)

Von Angelika Hitzke

LOTTE. Markus Pieper ist seit 2004 „unser Mann aus Lotte“ im Europarlament. Der CDU-Politiker vertritt Nordrhein-Westfalen und den CDU-Bezirksverband Münsterland, sitzt für die Europäische Volkspartei (EVP) im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr, ist Mittelstandssprecher seiner Fraktion und zudem Vorsitzender der Europakommission der deutschen Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU. Wir sprachen mit ihm über die Frage, ob die Flüchtlingskrise zur Zerreißprobe für Europa wird.

Herr Pieper, Sie sind Experte für Verkehrs- und Energiepolitik, aber auch Wirtschaftspolitiker und promovierter Geograf. Hat die Bundesregierung die Flüchtlingskrise unterschätzt?

Sowohl die EU als auch die Bundesregierung waren auf die Dynamik der Flüchtlingsströme zunächst nicht vorbereitet. Und dass in vielen Regionen der Erde sich die Lage gleichzeitig verschärft hat, führt jetzt zu dieser dramatischen Situation. Deswegen muss es jetzt vor allem darum gehen, schnell geordnete Verfahren zu schaffen.

Was meinen Sie mit geordneten Verfahren?

Das Wichtigste ist die Sicherung der Schengener Außengrenzen. Und das heißt, sofort und ausnahmslos jeden Flüchtling zu registrieren und europaweit für einen Informationsaustausch zu sorgen – sowie es mit dem Fingerabdrucksystem jetzt endlich eingeführt ist. Die Mitgliedsländer Europas müssen sich so austauschen, dass wir in Schweden, in Deutschland oder in Frankreich sofort wissen, wer europäischen Boden betritt. So können auch islamistische Terroristen bzw. Rückkehrer dingfest gemacht werden.

Welche Auswirkungen wird der Flüchtlingszustrom ihrer Einschätzung nach auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft haben?

Aus demografischer Sicht sehe ich durchaus eine Chance. Ich war heute in der Arbeitsagentur Münster, die derzeit die Qualifikationen der Flüchtlinge überprüft. Das ist schon so, dass wir etwa ein Viertel der Flüchtlinge innerhalb kurzer Zeit in den Arbeitsmarkt integrieren können. Auf der anderen Seite bedeutet dies, dass für 75 Prozent auch mittelfristig die Perspektive sehr schwierig ist. Hier müssen schon heute die langfristigen Folgen für unsere Sozialsysteme beachtet werden.

Ist die angesichts der Terroranschläge von Paris bekundete Solidarität der Mitgliedsländer nur ein Lippenbekenntnis, wenn man den nationalen Egoismus bei der Flüchtlingsaufnahme dagegenhält?

In Brüssel haben wir unsere Hausaufgaben gemacht, denn sowohl die Kommission als auch das Europaparlament haben sich für eine verbindliche Flüchtlingsquote ausgesprochen. Und zwar nicht nur für die 160 000, sondern für ein dauerhaftes Verteilverfahren. Das Problem ist der Rat, also die Staats- und Regierungschefs, die sich untereinander nicht einigen können oder wollen. Europa ist aber mehr als eine Schönwetterunion und Agrargelderverteilmaschine mit großzügigen Rettungsschirmen.

Sehen Sie Möglichkeiten, etwa die osteuropäischen Staaten zum Einlenken zu bringen?

Wir werden in Kürze eine Halbzeitbewertung für den europäischen Haushalt haben und hier ganz klar europäische Solidarität einfordern. Das heißt, bestimmte EU-Gelder werden wir den Mitgliedstaaten nur noch geben, wenn sie Anteile der EU-Förderung für die Auf- nahme und Integration von Flüchtlingen ausgeben.

Was kann und soll die EU konkret tun, um die Flüchtlingsströme in geordnete Bahnen zu lenken?

Zum Glück haben sich die Innenminister bei ihrem jüngsten Treffen endlich auf eine Kompetenzübertragung zur Sicherung der EU-Außengrenzen geeinigt – von der jeweiligen nationalen auf die europäische Ebene. Das heißt, mehr Geld und Frontex-Beamte in direkter europäischer Verantwortung. Neben Grenzsicherung und Registrierung ist aber das Wichtigste, dass wir die Fluchtursachen stärker bekämpfen. Dazu gehören zum Beispiel Vereinbarungen mit einigen afrikanischen Staaten, deren Entwicklungshilfe vervielfacht wird, wenn sie in berufliche Bildung, soziale Sicherungssysteme und Verkehrsinfrastruktur investieren.

Was halten Sie von Grenzkontrollen auch an EU- Binnengrenzen wie derzeit zwischen Frankreich und Deutschland?

Solange Schengen nicht sicher ist, habe ich Verständnis für diese nationalen Grenzkontrollen. Erst recht in Reaktion auf die Terroranschläge. Wir tun aber alles, die Au- ßengrenzen sicherer zu machen. Wenn jeder Mitgliedstaat auf die Idee käme, zu den alten Grenzkontrollen zurückzukehren, hätte das nicht nur Auswirkungen auf unsere persönlichen Freiheiten, sondern auch auf die Wirtschaft. Wir verdanken die gute wirtschaftliche Entwicklung gerade in unserer Region der Exportstärke unserer Unternehmen, die im Wesentlichen auf die Freiheit des EU-Binnenmarktes zurückzuführen ist.

Sollte sich die EU handelspolitisch neu ausrichten, etwa im Hinblick auf Waffenexporte und Länder wie zum Beispiel Saudi-Arabien?

Ich glaube nicht, dass die deutschen Waffenexporte, die ausschließlich zur Unterstützung von Bündnispartnern gedacht sind, die Lage weiter eskalieren lassen. Im Gegenteil, den westlichen Demokratien zugewandte Systeme werden stabilisiert. Wir werden auch mit Staaten wie der Türkei oder sogar mit dem Assad-Regime diplomatische Vereinbarungen treffen müssen, die zumindest kurzfristig die Lage entspannen helfen. Das passt mir auch nicht, ist aber unumgänglich.

Was kann Europa überhaupt tun, um den Vormarsch der Islamisten und damit einen wichtigen Fluchtgrund zu stoppen?

Einen wirklichen Vormarsch der Islamisten sehe ich nicht, denn die islamistischen Kräfte sind sich untereinander spinnefeind. Außerdem sind wir mit der NATO und auch mit der Wertegemeinschaft Europa gut gerüstet, um dem wirksam entgegenzutreten. Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass wir mit der EU nur acht Prozent der Weltbevölkerung sind. Deshalb ist die uneingeschränkte Solidarität untereinander absolut erforderlich. Darum müssen sich alle EU-Mitgliedstaaten an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Und deswegen brauchen wir neue europäische Konzepte für die Sicherung der Außengrenzen und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Alle diese Maßnahmen sind auf dem Weg.

Wie lange wird das dauern?

Da muss ich sagen, dass einige Maßnahmen, etwa die Sicherung der Außengrenzen, teilweise schnell zu verwirklichen sind. Aber belastbare Konzepte für Syrien, Libyen oder ostafrikanische Staaten lassen sich nicht in wenigen Monaten entwickeln, das wird Jahre dauern.

Was heißt das für Deutschland?

Das heißt für uns, dass wir natürlich das Grundrecht auf Asyl haben und alles tun müs- sen, unsere humanitären Verpflichtungen zu erfüllen. Aber wir müssen auch sehen, dass Integration dort eine Grenze hat, wo Parallelgesellschaften und soziale Verwerfungen drohen. Und wir dürfen auch die staatlichen Einrichtungen und die ehrenamtlichen Helfer nicht überfordern. Deshalb halte ich die Diskussion in Deutschland für eine zeitweise Begrenzung für erforderlich.

Veröffentlicht am 24. November 2015 in ,
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