Zum Inhalt springen

dpa Insight EU: Vignetten-Chaos auf der Windschutzscheibe – Die EU und die Maut

Die deutschen Mautpläne spalten die Gemüter in Brüssel. Doch im Grundsatz finden die EU-Kommission und viele Europaabgeordnete eine Pkw-Maut gut. Kommt gar ein einheitliches europäisches Bezahlsystem – oder bleibt es beim Flickenteppich nationaler Regelungen?

Brüssel (dpa Insight) – Wenn EU-Politiker über die Maut reden, entrüsten sie sich gerne über das Wirrwarr an Vignetten, das sich bei einer Fahrt über den Kontinent auf der Windschutzscheibe ansammeln kann. Wenn jedes Land sein eigenes System hat, macht dies das Reisen für Europas Bürger unnötig kompliziert, so die Botschaft. Die hitzige Debatte über den deutschen Vorschlag für eine Pkw-Maut für Ausländer hat die Frage wieder auf die Tagesordnung gebracht: Braucht die EU mehr einheitliche Regeln für die Straßenbenutzungsgebühren?

Die EU-Kommission deutet jedenfalls an, dass neue gesetzliche Vorgaben nötig werden könnten, wenn anders keine Vereinfachung zu erreichen ist. Der Verkehrsausschuss des Europaparlamentes hatte schon im April 2013 in einer unverbindlichen Entschließung festgestellt, dass wahrscheinlich eine EU-Verordnung und somit ein unmittelbar greifendes Gesetz nötig sei, um die Akteure zum Handeln für mehr Kohärenz zu zwingen.

Immer mehr europäische Länder bitten Autofahrer zur Kasse oder denken darüber nach, wie ein Vertreter der EU-Kommission am 4. November 2014 im Verkehrsausschuss des Europaparlaments berichtete. «Wir sehen eine starke Zunahme an nationalen Mautsystemen oder Vorschlägen in verschiedenen Ländern», sagte Olivier Onidi von der Generaldirektion Mobilität und Transport. Und schob gleich hinterher: «Das ist sehr gut.»

Denn zwar wird die Kommission in der Debatte über die deutsche Pkw-Maut für Ausländer vor allem im Hinblick auf mögliche europarechtliche Bedenken genannt. Der Vorschlag der Bundesregierung sieht vor, von Inländern und Ausländern eine Autobahn-Maut zu kassieren, Inländer im Gegenzug aber bei der
Kfz-Steuer zu entlasten – fraglich ist, ob sich dies mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung verträgt. Grundsätzlich steht die Kommission einer Maut aber positiv gegenüber.

Dahinter stehe das Prinzip, dass der Straßennutzer für die Infrastruktur zahlen soll («user pays principle»), erläuterte Onidi bei der Anhörung im Parlament. Den hatte auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seiner neuen Verkehrskommissarin Violeta Bulc ins Stammbuch geschrieben. Hintergrund ist auch die Suche nach mehr Geld für Investitionen in die Infrastruktur.
Probleme gebe es aber bei der Interoperabilität der verschiedenen nationalen Systeme, sagte Onidi. «Es gab bislang nicht genug politischen Willen auf der Seite der Mitgliedstaaten.» Dabei schreibt eine EU-Richtlinie von 2004 bereits die Schaffung eines europäischen elektronischen Mautdienstes vor – also eines
Bezahlsystems, das in allen EU-Ländern funktioniert, die eine Maut erheben.

Der Behördenvertreter sprach sich für ein Projekt aus, dass die verschiedenen Akteure an einen Tisch bringt, insbesondere die Anbieter der Maut-Bezahlsysteme. In den kommenden Monaten solle sich zeigen, ob so eine schnelle, einfache Lösung möglich sei. «Falls dies nicht erfolgreich ist (…) werden wir neue bindende Maßnahmen vorschlagen, die EU-weit implementiert werden müssen.» Eine Möglichkeit wäre es demnach,
die bestehende Eurovignettenrichtlinie anzupassen und auf Autos auszudehnen. Sie macht bislang nur Vorgaben zur Lkw-Maut.

Autofahrer als «Melkkuh» oder «Schmarotzer»?

Ob und auf welchen Straßen Autofahrer und/oder Lastwagen Maut bezahlen müssen, ist Sache der einzelnen Mitgliedstaaten. Allerdings gibt die EU-Kommission in ihrem 2011 veröffentlichten Weißbuch zum einheitlichen Verkehrsraum die strategische Kursrichtung aus, und zwar hin zu Maut für alle und überall: «Langfristig ist das Ziel, Nutzerentgelte für alle Fahrzeuge und das gesamte Netz zu erheben, um mindestens die Instandhaltungskosten der Infrastruktur, Staus, Luftverschmutzung und Lärmbelastung anzulasten.» Eine Verpflichtung erwächst daraus jedoch nicht.

Die Sicht der Kritiker

Kritiker einer Ausweitung von Mautsystemen sehen Autofahrer zu Unrecht zur Kasse gebeten. Sie argumentieren, für Autos und Lastwagen würden bereits zahlreiche Steuern und Gebühren fällig. «Straßennutzer zahlen tendenziell zu viel», sagte Marc Billiet von der internationalen Vereinigung für Straßentransport (International Road Transport Union, IRU). In Deutschland müssten sie 2,6 Mal so viel Geld hinlegen, wie von der öffentlichen Hand in die Infrastruktur gesteckt werde. In Frankreich sei es 2,4 Mal so viel, in den Niederlanden fast 1,7 Mal.

«Höchstens 50 Prozent der Einkünfte die von Autos kommen, werden in die Infrastruktur reinvestiert», kritisierte Laurianne Krid, politische Direktorin des Autofahrer-Dachverbands FIA, unter Berufung auf eine Studie aus den Niederlanden. Sie forderte, wenn neue Systeme eingeführt würden, sollten diese
«aufkommensneutral» sein. Sprich: Autofahrer sollen für das, was sie bei der Maut draufzahlen, an anderer Stelle entlastet werden.

Befüworter verweisen auf externe Kosten

Dem halten Maut-Befürworter entgegen, dass bei solchen Statistikien die sogenannten externen Kosten nicht berücksichtigt würden. Damit sind die Folgekosten des Verkehrs zum Beispiel für das Gesundheitssystem oder die Umwelt gemeint. «Die Studien, die ich kenne, zeigen alle, dass der Straßenverkehr seine Rechnung nicht bezahlt», betonte Jos Dings, Direktor der Umweltorganisation Transport and Environment.

Der Ausschussvorsitzende Michael Cramer (Grüne) fasste die Positionen zugespitzt so zusammen: Während die einen die Autofahrer als «Melkkuh der Nation» sähen, betrachteten andere sie als «Schmarotzer der Nation». Er selbst vertritt die Auffassung, dass Autofahrer ihren Teil der Rechnung nicht begleichen: Das Aufkommen aus Kraftfahrzeugsteuer, Mineralölsteuer und Lkw-Maut betrage in Deutschland rund 53 Milliarden Euro. Die Kosten des Autoverkehrs beliefen sich aber auf 77 Milliarden Euro, die externen Kosten beziffere das Umweltbundesamt auf 120 Milliarden Euro.

Detaillierte Vorschriften für die Lkw-Maut

Die Rechtslage ist wie folgt: Für eine Maut für Lastwagen gibt es konkrete EU-Vorgaben, die in der sogenannten Eurovignetten-Richtlinie (2011/76/EU) festgeschrieben sind. Falls Mitgliedstaaten Maut erheben, muss deren Höhe sich an der zurückgelegten Entfernung orientieren. Ein Vignettensystem muss
zeitlich gestaffelt sein und je nach Schadstoffklasse unterschiedlich hohe Beträge verlangen.
Ein nationales Mautsystem darf Spediteure aus anderen Mitgliedstaaten nicht diskriminieren. Die Gebühren müssen im Verhältnis zu den Bau- und Betriebskosten der fraglichen Infrastruktur berechnet werden, externe Kosten für Luftverschmutzung und Lärm dürfen einbezogen werden. Zur Vermeidung von Staus dürfen auch Aufschläge für Hauptverkehrszeiten verlangt werden. Die Regeln für Lastwagen sollen auch mögliche Wettbewerbsverzerrungen in der Speditionsbranche verhindern.

Keine speziellen EU-Regeln für Pkw-Maut

Für die Pkw-Maut gibt es bislang hingegen keine spezifischen EU-Vorschriften. «Da Passagierautos nicht im Wettbewerb stehen, glauben wir, dass dies ein Thema für die Mitgliedstaaten ist», sagte Kommissionsvertreter Onidi.
Wenn bei der Entwicklung der deutschen Mautpläne über Probleme mit dem EU-Recht gesprochen wird, geht es deshalb um allgemeine Prinzipien der Staatengemeinschaft. In erster Linie ist dies das Prinzip der Nichtdiskriminierung von EU-Ausländern (Artikel 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union). «Jedes Mautsystem, von dem die eigenen Bürger ausgenommen wären, wäre nicht-kompatibel», erklärte die Rechts-Expertin Sylvie Peyrou von der Université de Pau et des Pays de L’Audour in der Anhörung des Verkehrsausschusses.

Den deutschen Plan hält sie in einer ersten Einschätzung deshalb für eine «verschleierte Diskriminierung». «Wahrscheinlich – ich bin nicht 100 Prozent sicher – aber wahrscheinlich wird das vom Europäischen Gerichtshof so nicht akzeptiert werden», erläuterte Peyrou. Der Luxemburger EVP-Abgeordnete Georges Bach sagte: «Wir sind uns eigentlich alle einig, dass das diskriminatorisch ist.»
Der frühere EU-Verkehrskommissar Siim Kallas hatte sich dagegen wenige Tage vor dem Ende seiner Amtszeit im Oktober 2014 verhalten positiv über die deutschen Vorschläge geäußert. «Die vorgestellten Ideen gehen in die richtige Richtung», erklärte er. «Natürlich ist dies keine rechtliche Garantie, aber es sieht ermutigend aus.» Ob seine Nachfolgerin Bulc dieser Linie folgt, ist damit aber nicht gesagt. Im Verkehrsausschuss betonten Kommissionsvertreter wenige Tage später als offizielle Linie: «Wir kommentieren keine Entwürfe oder Konzepte.»

Die Systemfrage

Bei den Mautsystemen gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Ansätze: Die Gebühr kann entweder in Abhängigkeit von der Zeit oder von der zurückgelegten Entfernung erhoben werden. Viele Länder vor allem in Mittel- und Osteuropa setzen bei der Pkw-Maut auf Vignettensysteme, zum Beispiel Österreich,
Tschechien, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien: Dort kaufen Fahrer einen Sticker, der ihnen das Recht gibt, für einen bestimmten Zeitraum die mautpflichtigen Straßen zu nutzen.

Das deutsche Lkw-Mautsystem dagegen berechnet Gebühren nur für die tatsächlich zurückgelegten Entfernungen. Die Einführung des satelliten-gestützen Systems brachte allerdings massive technische Probleme und Verzögerungen mit sich. Zum Beispiel in Frankreich und Italien zahlen auch Autofahrer
Gebühren für bestimmte Wegstrecken. Zum Teil werden Gebühren für die Nutzung bestimmter Brücken oder Tunnel erhoben, im Londoner Stadtverkehr wird eine sogenannte Staugebühr (Congestion Charge) fällig.

Die EU-Kommission hält grundsätzlich distanzbasierte Modelle für sinnvoller. Sie seien besser geeignet, um die externen Kosten zu internalisieren, heißt es in einem Arbeitspapier aus dem Jahr 2013. Dem stimmte im Verkehrsausschuss auch Jos Dings von Transport and Environment zu. Vignettensysteme seien nicht «User pays», beklagte er. Denn bei ihnen gebe es keinen Anreiz, weniger zu fahren und damit Umweltverschmutzung und Staus zu reduzieren.

Flickenteppich bereitet Kopfschmerzen

Die mangelnde Harmonisierung bei der Mauterhebung stieß zahlreichen Abgeordneten im EU-Verkehrsausschuss sauer auf – sie dringen auf Lösungen, die in der ganzen EU anwendbar wären. Falls ein Mitgliedstaat sich für ein Mautsystem entscheide, solle es mit dem anderer Länder kompatibel sein,
forderte auch FIA-Vertreterin Laurianne Krid.

Der deutsche EVP-Abgeordnete Markus Pieper appellierte an seine Parlamentskollegen, auch den deutschen Vorstoß vor diesem Hintergrund zu sehen. «Jetzt haben wir endlich ein Instrument, wo wir benutzerabhängig eine Gebühr verlangen können, und die wieder in die Infrastruktur reinbringen können.»
Der CDU-Politiker fragte, ob dies nicht etwas wäre, was man europaweit weiterentwickeln könnte. «Wenn wir eine einheitliche Technik hätten, wo dann jedes Land ein eigenes Heberecht hätte und vielleicht einen Teil des Geldes dann auch zuzuführen hat an die Connecting Europe Facility, ist das nicht eine riesengroße Chance, die wir da in Deutschland veranstalten?»

In der Überarbeitung der EU-Richtlinie über die Interoperabilität elektronischer Mautsysteme in der Gemeinschaft (2004/52/EG) aus dem Jahr 2004 heißt es klipp und klar: «Für das gesamte Straßennetz der Gemeinschaft, für das elektronisch Maut- oder Straßenbenutzungsgebühren erhoben werden, wird ein
europäischer elektronischer Mautdienst eingerichtet.» Wenn ein Fahrer in einem Land einen Vertrag mit dem Mautsystembetreiber abschließt, soll er damit Zugang zum gesamten Netz haben. Doch in der Realität liegt das noch in weiter Ferne.

Wie es weitergeht, wird stark davon abhängen, wie die neue Kommissarin Violeta Bulc an das Thema herangeht. Sie hatte sich in ihrer Anhörung vor dem Parlamentsausschuss am 20. Oktober 2014 noch zurückhaltend geäußert. Sie argumentierte für das Prinzip «der Verschmutzer zahlt, der Nutzer zahlt». Jeder Mitgliedstaat habe aber das Recht, einen eigenen Weg zu finden.
Explizit befragt, ob sie ein einheitliches europäisches Mautsystem anstrebe, sagte sie, dass die Maut in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. «Also können wir keine Preise festlegen.» Die EU könne aber verlangen, dass die Mitgliedstaaten kostenbasierte Preise festsetzen. Bulc machte deutlich, dass sie auf lange Sicht ein einheitliches System bevorzugen würde, dass dies aber Zukunftsmusik ist. «Aktuell möchte ich dafür kämpfen, das wirklich kostenbasierte Preissetzung stattfindet und dass jedes Land Abstand von diskriminierender Behandlung nimmt.»

 

Veröffentlicht am 7. November 2014 in
Nach oben scrollen